Tagebuch eines polarisierenden Shirts aus Berlin und Marsha in New York

Sten Kuth

Diesen Text hatte ich im November begonnen, als ich im Flugzeug von New York nach Berlin saß. Doch wie so oft blieb er bis heute unvollendet liegen. Heute nun ist es an der Zeit.

Welches Shirt und wer ist Marsha fragt ihr Euch wahrscheinlich. Nun ich will Euch die Geschichte, die in Berlin begann und vor einiger Zeit in New York endete erzählen. Auch Ibiza hat etwas dabei zu tun.

Wer mich näher kennt, weiß, dass ich mich oft in unsichtbarem Schwarz kleide, aber gerne auch Farbe, untypische Schnitte und Designs mag. Dabei ist die Wahl meiner täglichen Looks nicht nur abhängig vom Tagesplan und meiner Stimmung, sondern, und das ärgert mich oft, auch von den Stadtteilen und Orten, die ich besuche, sowie den Menschen, die ich treffen werde. Ich hasse es, es ist einer meiner größten Fehler zu oft darüber nachzudenken, wie ich auf Andere wirken könnte.

Obwohl man Berlin ja nachsagt, es sei so offen und tolerant, kleide ich mich hier oft extrem leger und unauffällig, besonders wenn ich bestimmte Stadtteile besuche. Manchmal wünschte ich, ich wäre diesbezüglich “cooler”, aber es gibt eben gefühlt immer öfters Erlebnisse, bei denen meistens Touristen aber auch bestimmte Berliner mich anstarren, mir unangenehm nachgucken oder gar heimlich filmen, doch dazu später.

Übrigens höre ich auch öfter, ich würde mich zu jugendlich kleiden. Wer legt so einem Mist eigentlich fest?

Berlin, 12.04.2022

Anfang diesen Jahres fand ich online ein Shirt, in das ich mich direkt verliebte. Oftmals mag ich normale Baumwollshirts nicht. Als nicht schlanker Mensch sehen die in meiner Größe oft formlos und sackig aus, besonders nach ein paar Stunden des Tragens. Und enganliegende Muskelshirts sollte ich nun wirklich nicht mehr anziehen, diese sehen bei mir nicht nur aus wie “Tamara, die tanzende Presswurst” sondern wandern auch gerne mal nach oben und ein “Jaqueline Chantal bauchfrei Top” sieht auch nicht prickelnd aus bei mir. Außerdem hasse ich, es in Kleidung eingezwängt zu sein.

Das von mir geliebte neue Shirt bestand aus etwas schwererem Baumwollstrick, umschmeichelte Fett, Restmuskeln und alte Haut optimal und dies auch noch nach stundenlangem Tragen.

The Shirt

Da ich oft unterwegs bin, kaufte ich es gleich zweimal, ein Schnäppchen, da auch noch im Sale.

Ibiza, Juni 2022

Irgendwie hatte es sich bis dahin nicht ergeben, mein beloved Shirt zu tragen und so packte ich es für eine Ibiza Reise ein.

Ich trug es dort beim Einkaufen, im Restaurant und selbst bei Hippie Events. Bei letzterem Anlass scheint logisch, dass das Shirt gut ankam. Aber auch die Marktfrauen, andere Ibizenkos und ein paar ausländische Tourist:innen machten Komplimente für das Shirt. Nun, ich tendiere dazu, Komplimente mit vorsichtig zu nehmen, denn nichts kann man leichter daherrotzend dahin lügen. Auf der anderen Seite ist mir eine höfliche Lüge manchmal lieber als ungefragte Kritik, die oft sehr übergriffig sein kann . Amerikaner:innen tendieren zum Beispiel oft dazu, lieber etwas Nettes zu sagen und machen gerne verlogene Komplimente, aber irgendwie erkennt man immer, wann sie es wirklich ernst meinen und wann es gelogen ist. Besonders wenn Du Komplimente einer völlig fremden Person bekommst, die Dich nur deswegen anspricht, kannst Du davon ausgehen, dass es ernst gemeint ist – oder Du bist an Bettler, Serienkiller oder/und Psychopathen geraten. Aber lieber eine solche Person als ein chronischer Hater, doch dazu später.

Ich persönlich mache gerne Komplimente, was in Deutschland Menschen oft überfordert, so habe ich den Eindruck. Ich bin ein sehr kritischer Mensch, aber habe mir angewöhnt, nie ungefragt zu kritisieren, genauso würde ich aber auch nie loben oder Komplimente verteilen, wenn ich es nicht meinen würde. In solchen Fällen kann ich gut schweigen. In anderen Situationen würde ich mir das auch manchmal wünschen, aber leider habe ich auch mit der Muttermilch eingesogenen Shade und der muss manchmal auch raus. Aber ich sage ja immer solange der Shade nicht in Verbitterung endet (( und man, wie ich es gerne nenne, margotisiert (Insider ohne weitere Erläuterung)) ist alles ok. Solltest Du also irgendwann von mir ein Kompliment erhalten, ist es in der Regel ehrlich gemeint. So ist es eben auch bei spanisch-katalanischen Marktfrauen auf Ibiza. Mein Shirt war dort tatsächlich beliebt.

Mit der Gewissheit ein wirklich schönes, bequemes und praktisches Shirt zu haben flog ich wieder nach Berlin.

Berlin, 20. Juli 2022

Zurück in Berlin wurde es Zeit für einige Kulturevents und es war Pride. Meine sehr talentierte, liebe Freundin* Barbie Breakout hatte einen Live Podcast in Mitte, wo ich hin wollte. Es war ein sehr heißer Tag und was lag näher als ein bisschen Ibiza in die grosse Stadt kurz vor der polnischen Grenze aka Berlin zu bringen. Außerdem war mein geliebtes Shirt auch schweisstechnisch sehr dankbar. Ich machte an diesem Tag nur einen entscheidenden Fehler, ich benutzte den öffentlichen Nahverkehr , was man inzwischen scheinbar besser nur in unsichtbarem Schwarz oder Joggingklamotten macht.

Dass mich beim Verlassen meiner Wohnung am Kurfürstendamm Touristen anstarren bin ich ja schon gewohnt. Aber hey, wenn eine blaue Jeans, weiße Sneaker und eben mein Blumen Shirt diese Menschen schon zum Starren anregt, dann muss es in der Provinz wirklich sehr grau sein.

Wuchtbrumme mit buntem Blumenshirt

Nun , ich fuhr also mit dem Bus zum Anhalter Bahnhof um dort in die Untergrund SBahn umzusteigen, um zum Veranstaltungsort nach Mitte zu gelangen. Auf dem sehr leeren Bahnsteig lungerten zwei junge Männer, die mich zunächst nur anstarrten und dann meinten mich als Scheiss Schwuchtel mit schwulem Shirt bezeichnen zu müssen. Ich ging einfach weiter und bekam zum Glück mit, dass sie mir hinterher gingen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass einer der beiden Anlauf nahm, um mir in den Rücken zu treten. Ich hatte einen schnellen Reaktionsmoment und viel Glück, denn mein Rucksack gefüllt mit zwei vollen 1l Mineralwasser Glasflaschen hingt über eine Schulter und schleuderte beim Umdrehen dem Angreifer in das Gesicht, der daraufhin auf den Boden fiel und aus Mund und Nase blutete. Sein Kumpel war vor Schreck erstarrt und ich konnte mich in den wenige Schritte entfernten Aufzug zur Oberfläche retten. Am wenige Meter entfernten Taxistand stieg ich zitternd in einen Wagen und fuhr wieder nach Hause. Mein Abend war versaut.

Ich bin fest davon überzeugt, dass das Shirt den Fokus der Täter auf mich gelenkt hat. In straight acting black and sportswear wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Erschreckend, wenn ich bei meiner Statur wegen eines nicht 0815 Shirt auf die Fresse bekomme, was machen meine Freund:innen tagtäglich mit? Ist man in Berlin nur nur sicher, wenn man sich unsichtbar macht?

Berlin, 21. August 2022

Ein zweites, zum Glück weniger schlimmes aber trotzdem belastendes Erlebnis ereignete sich am Schlesischen Tor in Berlin. Zusammen mit einem guten Freund war ich unterwegs zu einem open air Drag Event. Als wir von der Hochbahn Bahn auf den Bus umsteigen wollten, wurde ich als erstes auf den Bahnsteig von Touristen ungefragt fotografiert. Auf den Treppen nach unten sagte meine Begleitung plötzlich, ich gehe mal besser hinter Dir, die Halbstarken dahinten versuchen Dich gerade zu filmen. Ich hatte das gar nicht mitbekommen, sonst wäre ich wahrscheinlich oben auf dem Bahnsteig bereits ausgerastet.

Tilly ist seit Jahrzehnten Dragqueen und kennt solche Situationen, sie sagte nur, ignoriere es, es ist es nicht wert. Mich hat es Stunden beschäftigt, warum kann ein dicker, 53jähriger Mann, nicht anziehen was er mag ohne in solche Situationen zu geraten?

Mit dem Shirt auf dem Icons Drag Fest

Auf dem Event angekommen, war es zum Glück ein Safe Space, coole junge queere Menschen in ihrer gesamten Diversity und Kreativität; ich fiel mit meinem Look überhaupt nicht auf. Alles war fast wieder gut, bis zwei straight acting Bekannte auftauchten und mich mit den Worten begrüßten, „oh das Shirt ist aber sehr mutig in Deinem Alter und nicht sehr männlich“. Ich hab zwar verbal zurückgeschossen aber es hat mir gereicht. Laune im Keller.

Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich später mit dem Taxi nach Hause fuhr, mein Bedarf an Menschen war gedeckt.

Das Shirt landete in der Wäsche und danach tief im Kleiderschrank.

New York City, 22. Oktober 2022

Ich war schon einige Tage in New York um Freunde und Familie zu besuchen. Das ominöse Shirt hatte, trotz aller negativen Erlebnisse, den Weg in meinen Koffer gefunden. Nun hing es in meinem Zimmer am Garderoben Ständer und meine Mum sah es und sagte, „oh zieh das an, Marsha hätte es geliebt“.

Marsha, das war Marsha P. Johnson. Marsha war eine Aktivist:in bereits vor Stonewall und lange danach, bis zu ihrem Tod 1992. Oft liest man, Marsha war transgender, ich bin mir sicher, sie selbst würde heute den Begriff non-binär und DragQueen verwenden, den es damals so nicht gab. Marsha war Sexworker:in, Aktivist:in, Drag Performer:in und ehrenamtliche Sozialarbeiter:in. Sie kümmerte sich um obdachlose trans* Personen und engagierte sich im Kampf gegen AIDS. Marsha liebte bunte und ausgefallene Kleidung und spielte mit Geschlechterrollen, sie liebte Blumen und steckte sie sich oft ins Haar. Und, Marsha war öfters meine Babysitterin, währen meiner Kleinkindzeit in NewYork.

Wenn du mehr über Marsha erfahren möchtest, so vermeide bitte den deutschen Wikipedia Eintrag, denn dieser ist nicht korrekt, während der englische derzeit ziemlich genau ist. Über Marshas Leben und ihrem bis heute ungeklärten, wahrscheinlich gewaltsamen Tod gibt es die sehenswerte Netflix Doku „The Death and Life of Marsha P. Johnson“ sowie die Doku „Pay It No Mind – The Life and Times of Marsha P. Johnson“.

Ich zog also das Shirt an, denn wir wollten eine kleine Marsha Erinnerungs- Tour machen. Zunächst gingen wir zum Stonewall Inn und dem davor liegenden Christopher Park mit dem Stonewall National Monument, wo in nächster Zeit ein Denkmal für Marsha und ihre Mitstreiterin und Freundin Sylvia Rivera errichtet werden soll.

Wir unterhielten uns dort mit einem älteren Aktivisten, den meine Mutter aus den 70er Jahren kennt. Mitten im Gespräch, schaute mich an und sagte, „Marsha would have loved this shirt“. Ich war etwas sprachlos.

Danach machten wir uns auf den Weg zu den Piers am Hudson River, dort wo man 1992 Marsha‘s Leichnam gefunden hatte. Ganz in der Nähe befindet sich ein Springbrunnen, die Marsha P. Johnson Fountain. Immer wenn ich dort bin werfe ich in Gedenken an Marsha ein paar Münzen in den Brunnen, denn Marsha hat Zeit ihres Lebens jede Münze mehrfach umdrehen müssen.

Von dort fuhren wir in den East River Statepark in Williamsburg, einem Teil von Brooklyn. Dieser Park wurde Im Jahr 2020 in Marsha P. Johnson State Park umbenannt. Es ist ein Park der Begegnung, Schaustafeln erinnern außerdem am Marshas Leben und Wirken, Kinder Lernern über Natur und Pflanzen, aber auch über Community und Vielfalt. In naher Zukunft soll das Eingangstor außerdem mit einer Art Blumenschmuck dekoriert werden, so wie Martha häufig ihre Blumen ins Haar und an ihre Kleidung steckte. Noch ist nicht alles fertig, aber es ist ein toller Ort.

Während wir dort waren kam uns eine Kindergruppe, die eine Führung gemacht hatte und scheinbar über Marsha gelernt hatten., entgegen. Ein Mädchen sagte ganz laut als sie mein Shirt sah, „cool, that man wears a shirt with flowers, like Marsha had on her head“.

Ich Kürze es etwas ab, ich war mit meinem Shirt versöhnt und wer mich kennt, weiß, natürlich auch den Tränen nah.

Am nächsten Tag fuhr ich noch mal in den Park und vergrub das Shirt heimlich unter einem Strauch in der Erde, denn:

Marsha hätte es geliebt und ich, ich habe ja noch ein zweites Exemplar.

Ich hoffe, ich lerne daraus, mir nie wieder sagen zu lassen, was ich anziehen darf und was nicht. Und wenn ich in Zukunft für Kleidung kritisiert werde, sage ich einfach: Marsha hätte es geliebt.

Happy Holidays, seid nett zu einander,

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