Familie nach Wahl oder Ich wollte immer wie Anna Madrigal sein

Sten Kuth

You cannot be loved by someone who doesn’t want to know you.

Anna Madrigal

An anderer Stelle habe ich ja schon öfters über meine Familie gesprochen und wie dankbar ich für meine freie und offene Kindheit und Jugend bin. Wenn mir meine Mutter eines auf den Weg gegeben hat, dann immer, wie wichtig Familie ist, dabei hat sie aber auch immer betont, dass Familie nicht zwangsläufig Blutsverwandtschaft bedeutet. Heute weiß ich, was das bedeutet, denn auch wenn ich mit meinen Eltern sehr eng war und bin, so bin ich es mit dem Rest der Familie, besonders dem deutschen Teil überhaupt nicht. Diese haben mich aufgrund ihrer streng katholisch konservativen Einstellung für meine Queerness verachtet und meinen künstlerischen Lebensweg nicht ernst genommen. Stattdessen habe ich schon als Kind gemerkt, dass man sich Familie auswählen kann und sollte, dass gerade für uns queere Menschen eine Wahlfamilie, mehr als nur ein Ersatz für die Familie, in die wir geboren wurden, ist.

So hatten auch meine Eltern eine Wahlfamillie, die während der Jahre in New York, aus vielen verschiedenen queeren Menschen mit unterschiedlichen Ethnien und Religionen stammten. Später in Ibiza war es eine internationale Gemeinschaft von Hippies. Diese Wahlfamilien waren immer wichtiger als meine genetischen Onkel, Tanten und Cousinen. Nur zu meiner Großmutter, der Tänzerin, die sich ebenfalls von ihrer genetischen Familie losgelöst hatte als diese blind Hitler folgten, hatte ich ein sehr enges Verhältnis.

Als wir später nach Deutschland zogen, war es , nicht nur für mich, schlimm, diese Wahlfamilie nicht mehr zu haben. Besonders meine Mutter ist in Deutschland nie richtig glücklich geworden. Es gab Freunde und Bekannte und auch wenn ich von meinen Schulkameraden akzeptiert und respektiert wurde, so war ich durch meine Reiterei und besonders durch mein intensives Tanzen doch eher ein Einzelgänger.

Als ich mich 1983 mit 14 Jahren outete schenkte mir meine Mutter, die bis dahin erhältlichen ersten 3 Bücher der Stadtgeschichten von Armistead Maupin. Ich liebe diese Bücher bis heute. Die von Maupin beschriebene kleine bunte Wahlfamilie, welche die trans* Frau Anna Madrigal in der Barbary Lane 28 in ihrem Haus aufnahm, wurde meine fiktive Wahlfamilie. Das war für mich die absolute Seelenrettung, denn anders als in New York und Ibiza hatte ich in der deutschen Kleinstadt keine queeren Bezugspersonen. So tauchte ich tief ein in die verschieden Charaktere. Als schwuler Junge war ich natürlich zunächst unsterblich in Michael Tolliver, den schwulen Haupt-Charakter der Geschichte verliebt, Mary Ann Singleton fand ich damals wie heute ganz blöd, doch dazu später, und die Geschichte von Miss Madrigal faszinierte mich.

Als ich erfuhr, dass es scheinbar nur 3 Bücher gab, begann ich beim letzten Buch nur 2-3 Seiten jeden Tag zu lesen, da ich Angst hatte, dass die Geschichte enden könnte und meine Wahlfamilie mich verlassen könnte. Zum Glück brachte eine Freundin meiner Mutter 1984 druckfrisch den vierten Band aus den USA mit. Meine Welt war für eine Weile wieder in Ordnung. Doch auch diese Geschichte endete irgendwann und ich hatte meinen ersten Freund. 1986 ging ich auf Schüleraustausch nach New York und neben meinem Schuljahr mit Schwerpunkt Tanz landete ich durch Zufall und furchtbar minderjährig das erste Mal in den Ballrooms von Harlem und fühlte mich wie im Himmel. Ich konnte Tanzen wie wollte, auch wenn es Regeln gab und Wettbewerb, ich fühlte mich in meinem Tanzen aber das erste Mal völlig frei. Aber vor allem, ich lernte wieder echte Wahlfamilien kennen, wie ich es als kleiner Junge im Village um die Christopher Street gekannt hatte.

Die Jahre 87/88 zurück in Deutschland waren der Horror. Ich flüchtete mich in mein Tanzen aber Weihnachten 1987 bekam ich zum Glück endlich ein neues Buch der Stadtgeschichten. Ich habe immer viel gelesen aber kein Buch so oft wie die Stadtgeschichten. Bücher können Leben retten. Bücher mit queeren Themen können queere Leben retten. Wie sehr hätte ich als Kind eine Drag Queen Storyhour und mehr Bücher, in den Menschen vorkamen die wie ich waren, gebraucht.

Nun, sobald ich die Schule hinter mir hatte ging ich nach NewYork zum Tanzstudium. Ich fühlte mich in der Ballroom Community zu Hause, auch wenn ich im eher weißen Eastvillage jobbte. Ich kellnerte im Limelight, tanzte Im Pyramid Club und hing mit den Clubkids ab, lange bevor Michael Ahlig durchdrehte und seinen Dealer ermordete. Ich war irgendwie immer mit dabei aber eben ein sehr braver Tanzstudent, der keinen Alkohol trank und keine Drogen nahm. Erst später realisierte ich, dass ich naiv und furchtbar wie die schreckliche Mary Ann aus Stadtgeschichten war. Irgendwie gehörte ich nicht dazu war aber doch irgendwie dabei. Irgendwann muss ich diese Geschichten aus dieser Zeit mal aufschreiben…. ob dass Frau Shupack (na wer weiß, wer gemeint ist?) gefallen wird. I don’t know.

New York 1989

Doch zurück zu den Wahlfamilien. Als Gast des House of Ninja – ich wohnte sogar einige Zeit mit Willi Ninja in einer WG – lernte ich kennen, was Wahlfamilie sein kann. Anders als die weissen privilegierten glatten Charaktere meiner Stadtgeschichten, hatten die Menschen, die ich nun kennen und lieben lernte, echte Probleme. Sie waren größtenteils nicht weiß und privilegiert, sondern mehrfach diskriminiert und von der Gesellschaft verachtet, viele waren von ihren Familien verstoßen und dazu kam der heute für viele junge Menschen nicht mehr präsente Schrecken von AIDS. Darüber hab ich ja schon einmal hier im Blog geschrieben. Die Houses, die Wahlfamilie, retteten unzählige junge, meist queere Menschen und tun es noch heute. Willi Ninja, ware der Hausvater der Ninjas, für mich war er meine Miss Madrigal.

Ich kürze hier etwas ab.

Den 1989 erschienenen, damals zunächst letzten Band der Stadtgeschichten, lass ich erst 1991 während meines ersten Engagement im Pariser Moulin Rouge. Inzwischen waren, wie so häufig in unserer Branche, meine Kolleg:innen, meine Wahlfamilie geworden. Zumindest redeten wir uns das damals ein. Bei jeder neuen Produktion aufs neue, dabei blieben wir eigentlich immer nur Kolleg:innen und redeten uns ein, wir seien Familie. Heute muss ich immer grinsen, wenn ich mitbekomme, wie junge Kolleg:innen, dem gleichen irrgläubigen Konzept folgen und sich nach Produktionsende ewige Freundschaft schwören. Klar, einzelne Kontakte und auch Freundschaften bleiben bis heute, aber letztlich verhält es sich mit Kolleg:innen wie mit Schulfreunden und Schulfreundinnen, man hat sie sich nicht ausgesucht , eine unfreiwillige Zweckfamilie eben. Dennoch habe ich bis heute eine beruflich-freundschaftliche Wahlfamilie, ein Netzwerk von Kolleg:innen, mit denen ich bis heute immer wieder zusammen arbeite, denen ich mich nicht erklären muss. Ich kann am besten in einem vertrauten und vertrauensvollen Rahmen kreativ sein, ähnlich wie RuPaul bis heute nit den gleichen Menschen aus seinen Anfangstagen zusammen arbeitet. Diesbezüglich war ich immer der treue, nach Harmonie suchende Michael Tolliver. Meine innere Mary Ann Singleton rettete mich vor vielen Dummheiten, ein bisschen mehr Mona Ramsey, eine weitere Figur der Stadtgeschichten, haette mir manchmal aber doch gut getan.

1991 – Programmheft Formidable Moulin Rouge Paris

Die Stadtgeschichten haben mich immer begleitet, es sind die Bücher, die ich bei jedem Umzug behalten habe. Sie haben mich öfters “gerettet” in depressiven Phasen oder wenn schwere Entscheidungen und Veränderungen anstanden. Die Barbary Lane 28 ist so etwas wie ein mentaler Rückzugsort geworden, wie bei einer Meditation, in der man einen fiktiven Ort als Zufluchts- und Wohlfühlort herbeirufen kann.

2001, ich lebte seit 1999 in Sydney, musste ich für eine Weile nach Deutschland. Nachdem mein Engagement als einer der Choreographen für die Olympischen Spiele ausgelaufen war, lief auch meine Arbeitserlaubnis für Australien aus. In Sydney hatte ich inzwischen eine Beziehung und lebte mit ihm und 3 weiteren schwulen Männer in einem Haus. Nach 10 Jahren auf der rastlosen Reise von Engagement zu Engagement war ich angekommen, hatte wieder eine Wahlfamilie, die ich jetzt wieder verlassen sollte?

In Köln fand zu dieser Zeit das queere Verzaubert Filmfestival statt. An mehreren Tagen zeigte man auch die Stadtgeschichten, deren Bücher 1-3 für das Fernsehen verfilmt wurden. Ich saß Stunden im Residenz Kino und fühlte mich zu Hause, tatsächlich waren einige Charaktere so dargestellt, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nur der erste Michael Tolliver, den mochte ich nicht. Später ersetzte man den Darsteller zum Glück.

Irgendwie hat mir diese Verfllmung eine enorme Kraft gegeben. Ich wusste ich musste für meine Wahlfamilie kämpfen und tatsächlich schaffte ich es, eine neue Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Ich konnte zurück und wurde einer der künstlerischen Leiter für die Openings und Closing der Gay Games Sydney, choreographierte Dragshows und Tanztheater, unterrichtete und bekam dafür sogar Awards. meine persönliche Barbary Lane 28 war in der Annstreet 82.

Zurückblickend kann ich sagen, dass die Zeit in Sydney eine meiner glücklichsten war.

Leider können sich auch in Wahl Familiendramen ereignen, mein Ex wurde drogensüchtig und aggressiv, Freundschaften zerbrachen, und um mich finanziell zu retten, musste ich mehr weniger nach Deutschland flüchten. Gerettet habe ich von meinem Besitz, die Stadtgeschichten Bücher und die Videos der Fernsehrserie, die ich inzwischen erworben hatte, mein Schatz, den bis heute hüte.

Ich kürze die Geschichte hier wieder etwas ab.

Mitte der 2000er Jahre gab es dann Queer As Folk, was ich zwar sehr mochte, und was für unsere Community damals eine enorme Sichtbarkeit gab, aber es war mir zu cis schwul. Und konnte ich auch eher mit Michael Novotny (noch besser im Englischen Original Vince) identifizieren, eigentlich eine männliche Mary Ann 😂. Ich wollte nie Brian Kinney bzw Stuart Allen Jones sein. Einzig der Figur Debbie Nowotny lässt mich immer noch schmunzeln, denn sie erinnert mich in vielen Details an meine Mutter. Allerdings us das Lemon Squares Rezept meiner Mutter besser.

Sowohl die Stadtgeschichten wie auch Queer as Folk, erlebten vor kurzen, ein eine Fortsetzung. Queer as Folk ist nicht unbedingt wirklich schlecht, aber auch nicht richtig gut und komm dann das Original nicht heran. Die Netflix Stadtgeschichten Mini Serie basiert auf den letzten Büchern, die Maupin geschrieben hat, das Drehbuch und die Umsetzung ist jedoch furchtbar. Was an beiden Produktionen gut ist, sind die diverseren queeren Charaktere, leider wirkt es alles etwas zu gewollt divers.

Meiner Liebe zu den Stadtgeschichten tut es aber keinen Abbruch und ich glaube bis heute an das Konzept der Wahl Familie. Heute bin ich jedoch weder Michael Toliver und schon gar nicht mehr die blöde Mary Ann. Ich wäre gerne wie Anna Madrigal, die Person die, alle um sich schart. Andererseits bin ich auch sehr gerne Alleine und mein Haus in der Barbary Lane habe ich noch nicht.

Letztes Jahr habe ich mir übrigens einen Traum erfüllt und die, als Vorbild für die fiktive Barbary Lane genutze Macondray Lane in San Francisco besucht.

Als ich die grossen Holztreppen erklomm fühlte ich mich noch einmal wie Mary Ann, wie sie das erste Mal dort hoch ging.

Viele meiner queeren Freunde sind mit den Stadtgeschichten gross geworden und ich kann den queeren Kids und allen anderen Menschen die Bücher und TV Serie nur empfehlen. Es ist queer history. Lernt Michael, Mary Ann. Miss Madrigal und die anderen Bewohner der Barbary Lane 28 selbst kennen.

Das Konzept von Wahlfamilie ist ein Konzept von Gemeinschaft. Vielleicht fühle ich mich deshalb bis heute auch auf Ibiza so wohl, da auf dieser Insel Freundschaft und Gemeinschaft eine gesellschaftliche Grundfeste sind, auch über die Grenzen der queeren Bubble hinaus.

Ich wünsche mir in meiner Wahlfamilie, dass sich wieder mehr verabredet und getroffen wird. Die digitale Welt lässt uns doch etwas träge und, trotz social media, unkommunikativ werden.

Happy Pride Month.

Links:

https://youtu.be/x4mB6FWa5k0


Ein wunderschöner Song über die Barbary Lane als fiktiver Zufluchtsort

https://en.wikipedia.org/wiki/Club_Kids

Über die Clubkids

https://en.m.wikipedia.org/wiki/Michael_Alig

über Michael Ahlig

https://m.imdb.com/title/tt0320244/

Partymonster – Film über die ClubKids und den Mord

https://m.imdb.com/title/tt0141716/

Doku über die Clubkids und den Mord

https://m.imdb.com/title/tt0106148/?ref_=nv_sr_srsg_9_tt_8_nm_0_q_tales%2520of%2520the%252

Tales of the City TV Seried

https://m.imdb.com/title/tt0120574/?ref_=tt_sims_tt_i_1

More Tales of the City

https://m.imdb.com/title/tt0245625/?ref_=tt_sims_tt_i_1

Further Tales of the City

https://m.imdb.com/title/tt7087260/?ref_=tt_sims_tt_i_3

Die schlechte Netflix Produktion der modernen Stadtgeschichten

https://m.imdb.com/title/tt0185102/?ref_=tt_sims_tt_i_1

Queer As Folk UK

https://m.imdb.com/title/tt0262985/?ref_=tt_sims_tt_i_1

Queer As Folk USA

https://m.imdb.com/title/tt9569528/?ref_=tt_sims_tt_i_3

Queer As Folk 2022

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Willi_Ninja

Willi Ninja

https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ball_culture

über Ballroom Culture und Houses

https://m.imdb.com/title/tt0100332/

Paris is Burning – Kultfilm über die Ballroom Culture während meiner Zeit in New York

https://m.imdb.com/title/tt7562112/?ref_=tt_sims_tt_i_1

Pose Serie (ehenals Netflix jetzt Disney +) über die Ballroom Culture leider zu hochglänzend und zu glücklich inszeniert aber inhaltlich geschichtlich recht korrekt.

https://m.imdb.com/title/tt1418888/?ref_=nv_sr_srsg_0_tt_8_nm_0_q_how%2520do%2520I%2520look

Film von 2006 über die Harlem Ballroom Scene

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