Sehr persönliche Gedanken zum Welt AIDS Tag am 01.12.

Sten Kuth

Am 01.12.2021 ist, wie jedes Jahr bereits seit 1988, Welt AIDS Tag. Ein Tag nicht nur zum Gedenken an die Menschen, die wir durch diese Krankheit verloren haben, sondern auch, um weiterhin Bewusstsein für HIV/AIDS zu schaffen, aufzuklären, falsche Informationen aufzudecken und weiterhin dafür zu sorgen, dass diese Krankheit irgendwann heilbar und bezwingbar ist. Auch wenn uns bereits heute Medikamente zur Verfügung stehen, die HIV infizierten ein fast normales Leben ermöglichen und wir sogar Prophylaxe Medikamente haben, so gibt es immer noch keine gesicherte Therapie zur Heilung, auch wenn es langsam Licht am Horizont gibt.

Hinzukommt, dass nur 73 % der Menschheit bisher Zugriff auf diese Medikamente und Prophylaxetherapie hat, fast ein Viertel der Menschheit immer noch nicht. Weltweit leben heute etwa 38 Millionen Menschen mit HIV, alleine 2020 starben weltweit 680.000 Menschen an den Folgen von Aids, seit 1980 sind weltweit seit Beginn der Epidemie 36,3 Millionen Menschen an den Folgen von Aids gestorben. Am stärksten betroffen ist das südliche Afrika. In Osteuropa und Zentralasien ist die Zahl der Infektionen in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Corona-Pandemie wirft die Maßnahmen gegen HIV/Aids zurück: Kontaktbeschränkungen haben HIV-Tests behindert und führten in vielen Ländern zu einem starken Rückgang der Diagnosen. Auch die medikamentöse Versorgung wurde teilweise eingeschränkt oder unterbrochen. (Quelle: Deutsche AIDS Hilfe https://www.aidshilfe.de)

Seit Beginn der Corona Pandemie kommen bei mir selbst immer öfters alte Erinnerungen und unverarbeitete Traumata auf, da mich die derzeitige Situation immer wieder triggert . Warum? Nun, dazu muss ich etwas weiter ausholen und möchte die Gelegenheit benutzen ein wenig aus meiner persönlichen Biografie zu erzählen. 

Ich habe wahrscheinlich das Glück, einige Jahre zu spät geboren worden zu sein. Ich bin 1969 geboren, im Juli  69, kurze Zeit nach den Stonewall Riots in New York City. Unsere alte Adresse war 45 Christopher Street, heute 45 Stonewall Place, ein Apartment Hochhaus, welches direkt an das StoneWall Inn grenzt, der Bar in der die Stonewall Unruhen begannen. Doch das ist eine andere Gaystory. 

Meine Künstlerfamilie war eng mit dem, damals wenig bürgerlichen Viertel und seinen Menschen verbunden. So war es nichts besonderes, dass bei uns in der Wohnung der erste Gay Liberation Day mitgeplant wurde und bei uns oft open house für alle war. Ich war als Säugling immer mitten drin, aber erinnere mich natürlich an nichts, leider in diesen Jahren auch nicht an Martha P Johnson, die sogar an einigen Abend bei mir Baby gesittet haben soll, wie sie mir später erzählte und auch nicht an den ersten Gay Pride, damals Gay Libration Day, den ich im Kinderwagen mit geschoben  wurde. Erinnern tue ich mich erst im Kindergarten Alter, als meine Mutter mich zu den ersten Treffen von PFlag, der Gay- &  Lesbian Eltern Organisation in die Metropolitan Duane Methodist Church im Village mitnahm. Ich erinnere mich an viele unterschiedliche Menschen und was mir bis heute geblieben ist, ich erinnere mich daran, in einer absoluten Normalität mit Schwulen, Lesben,  Transmenschen,  People of Color und LatinX aber auch jüdischen Freunden aufgewachsen zu sein.  Für mich war es ein erster und ernster Kulturschock als ich mit sechs Jahren aus diesem Umfeld gerissen wurde und mit meinen Eltern nach Europa zog,  wo ich teilweise auf Ibiza und später in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf aufwachsen sollte.  

Um es etwas abzukürzen, ich hatte ein tolle Kindheit und auch Jugend. Auch wenn es diese Vielfalt, die ich von New York gewohnt war, in der Kleinstadt nicht gab, so bin ich dort relativ offen aufgewachsen. Selbst mein Coming Out, welches für mich überraschender kam als für meine Eltern, wurde von Lehrern und Schülern akzeptiert oder höchstens leicht verwundert hingenommen, aber ich war eh sehr speziell für Alle, aber sie mochten mich. Auch dies könnte ein ganzes Kapitel eines Buches zu füllen, aber darum soll es heute nicht geben.

Die Zeit meines Coming Outs fiel zusammen mit dem Zeitpunkt in dem in Deutschland das erste Mal über Aids, die Schwulenseuche oder den Schwulen Krebs berichtet wurde. Zu Hause bekam ich mit, dass meine Mutter sich um die New Yorker Freunde sorgte. Die größte Arbeit hatte meine Mutter aber damit, mich zu beruhigen, denn mit dem was man so las dachte ich natürlich, mich träfe es auch. Mir war gerade bewusst geworden, dass ich schwul bin und nun erfuhr ich also aus der Presse, dass sich als Schwuler durch diese Krankheit gestraft werden würde und dem Tode geweiht bin. Dieses Gefühl wünsche ich niemanden.

Durch den Kontakt meiner Mutter in die USA hatten wir relativ schnell immer die aktuellsten Neuigkeiten und Updates per Post, Fax und Telefon.  Mein eigenes SchwulSein war bei den schrecklichen deutschen katholischen Verwandten und anderen Lästermäulern nur im Zusammenhang mit AIDS ein Thema, meine Tante bekreuzigte sich wenn ich dass Zimmer verließ.  Dennoch muss ich sagen, dass ich mit Ausnahme dieses Teils unserer Familie weder im familiären Umfeld, noch in der Nachbarschaft oder in der Schule jemals irgendeine Diskriminierungserfahrung aufgrund meines Schwulseins hatte. Unglaublich aber es ist so. Vielleicht habe ich es auch einfach nur alles an mir ab prallen lassen oder gar nicht wahrgenommen , da ich so behütet, offen und liberal aufgewachsen und erzogen wurde und durch das Tanzen Selbstbewusstsein gelernt hatte obwohl ich bis heute immer noch mit Schüchternheit zu kämpfen habe.

Ich lege jedem, der die Zeit zu Beginn der 80er nicht erlebt hat, ans Herz, sich mit den ersten Jahren der AIDS Epedemie in Deutschland und den USA zu beschäftigen. Das Verhalten von Politikern, Kirchenvertretern sogar einigen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit war Menschen entwürdigend.

1985, mit 16, ging ich schließlich zu einem Schüleraustauch für 11 Monate nach New York und bekam mit, wie unsagbar schlimmer es bereits im Vergleich mit Deutschland war. Ich werde diese gespenstische Stimmung niemals vergessen. Ich war damals mit meinem ersten Freund zusammen, der aus New York kam und den ich über meine Mutter und meine Großmutter in Paris kennen gelernt hatte. Verliebt wie wir damals waren, waren wir natürlich mehr mit uns selbst beschäftigt und ich hatte zudem auch nur mein Tanzen im Kopf. Ich war zu jung,  um in irgendwelche Clubs zu gehen und Steven hielt mich sehr von der Gay Scene weg. Neben der High School hatte ich ein Stipendium an einer professionellen Tanzakademie, die größtenteils von LatinX und People of Color besucht wurde. Immer häufiger blieben jedoch Plätze im Ballettsaal leer, häufig standen Bilder mit Kerzen auf der Fensterbank, eines Tages fehlte unser Lehrer. Er lag im Krankenhaus. Nach ein paar Wochen fasten meine Mitschüler und ich den Mut und besuchten ihn, logen auf der Station über unser Alter. Das war das erste Mal, dass ich einen an AIDS sterbenden Menschen sah. Ich habe danach eine Woche nicht geredet.

Meine Gastfamilie, bei der ich nur pro forma angemeldet war, da ich ja bei meinem Freund lebte, waren Freunde meiner Eltern, die später 1988 ihren eigenen Sohn an AIDS verloren haben. Sie unterstützen mich zusammen mit Steven, sonst wäre ich wohl kurzzeitig in der Nervenheilanstalt gelandet, so heftig war der Schock, ich war knapp 16!

Zurück in Deutschland wurde nun auch das erste Mal in meinem Gymnasium über das Thema gesprochen, zum Glück hatten wir viele junge Lehrer,  die gerade ihr Referendariat beendet hatten und gegen den Widerstand der alten Kollegen Themen wie Safe Sex Aufklärung mit in den Unterricht brachten. Ich habe bis heute nur ganz verschwomme Erinnerung, nach der Zeit in NewYork wollte ich einfach nur ganz schnell zurück, obwohl es dort so deprimierend war. Aber in Deutschland kam mir alles so banal und oberflächlich vor und ich hatte in New York das erste Mal den unerschöpflichen Zusammenhalt innerhalb der Community gespürt, trotz des fürchterlichen Leids das ich dort sah. Klar, dass meine Eltern dies nur zu gut nachvollziehen konnten, wir haben damals zum Glück viel geredet und sie haben mich aufgebaut.

Mein Freund Steven arbeitete als Model und war viel in Europa, aus diesem Grund sahen wir uns viel, ich war mit meiner Tanzausbildung und mit meinem Abitur beschäftigt und wollte so schnell wie möglich wieder nach New York. Während aller Schulferien flogen wir nach New York wo Steven Teil der Act Up Bewegung wurde, er hatte Mühe mich davon abzuhalten mitzumachen, aber er wollte mich schützen, da ich minderjährig war und sie bei ihren Aktionen oft verhaftet wurden, ich glaube er hatte auch Angst vor dem Donnerwetter meiner Mutter. Hauptsächlich ging es bei Act Up darum, die Öffentlichkeit wachzurütteln, durch schockierende bis radikale Demos und (Kunst)Aktionen. Bis 1987 hatte Ronald Reagan und seine Regierung nämlich das Thema AIDS totgeschwiegen. Bis dahin waren schon 28.000 Menschen an Aids gestorben und mehr als 60.000 Menschen als infiziert gemeldet.

1989 war es endlich so weit. Abi und weg. Ich erhielt ein Stipendium, wieder an der Alwin Ailey School sowie am Harlem dance Institut, zog mit Steve erst in die Bronx und dann nach Harlem. Wir kellnerten auf den Parties der Clubkids im Limelight, ich war Backuptänzer im Pyramid Club und bei Event von Susan Bartsch, wurde zu Parties eingeladen bei Keith Haring kurz bevor auch er verstarbt. Ich wurde ein Freund von Willi Ninja, der zeitweilig sogar bei uns wohnte, wurde als weißes Ziehkind von der Ballroom Community und dem House auf Ninja adoptiert. Ich war überall dabei, aber immer sehr behütet durch Steven und vielleicht dadurch auch etwas unter dem Radar. Auch das hat mich wahrscheinlich gerettet.

Wir hatten eine so kreative Zeit voller Zusammenhalt und Diverstät obwohl wir um unsere Existenz kämpfen mussten. Denn trotz aller Leichtigkeit, Kreativität und Freundschaft war’s ein hartes Leben. Ich war in der glücklichen Lage, dass ich etwas Geld von zu Hause bekam, behütet war in meiner monogamen Partnerschaft und ein weißer priviligierter junger Mann war, aber unsere Freunde hatten oft nichts. Viele mussten anschaffen gehen, lebten auf der Straße, manche verschwanden spurlos, wurden tot aufgefundenen oder wurden im günstigsten Fall nur regelmäßig verprügelt und ausgeraubt. Besonders unsere LatinX und BIPoc Freunde galten in der weißen Gay Community nichts und wer Trans oder gar Trans und BIPoc war, galt als wertlos. Auch diese Erlebnisse von damals kommen mir oft in letzter Zeit wieder hoch, wenn ich sehe wie auch in Berlin people of Color und Trans Menschen immer noch von Teilen der Community mis- oder sogar verachtet werden. Vielleicht sind deshalb auch bis heute meine besten Freunde oft DragQueens und habe ich besseren Draht zu queeren Menschen als zu weißen toxisch maskulinen cis Gay Guys.

Wir mussten zu sehen, wie immer mehr Freunde starben. Ich möchte dies alles gar nicht hier aufschreiben, denn es würde den Rahmen dieses Blogs sprengen, ich bin auch, glaube ich, noch nicht bereit dazu jedes Detail aufzuschreiben. Wer die Serie Pose auf Netflix oder Russel T. Davies großartige englische Mini Serie It’s A Sin anschaut, kann einen guten Eindruck bekommen, wie unser Alltag damals war. Beide Serien bilden die Realität erschreckend genau nach, auch wenn natürlich alles etwas Hollywood polished ist. Beide Serien kann ich selbst nur schwer anschauen, da sie vieles triggern.

Als ich 1992 in mein erstes Engagement nach Paris ging, hatte ich 96 Freunde und Bekannte sowie Kollegen mitbeerdigt, wenn wir sie überhaupt beerdigen konnten und sie nicht in anonymen Massengräbern verscharrt wurden oder von ihren Eltern in die Provinz zurückgeholt wurden, aus der sie einst geflohen waren. Als ich in Paris ankam war ich 23 Jahre alt, 9 Jahre nach meinem Coming Out, mein Schwulsein begann direkt mit dem Thema AIDS. Übrigens habe ich micj nach wenigen Wochen in Frankreich Act Up Paris angeschlossen, bis ich 1993 für eine Zeit nach Deutschland zurückkehrte.


Vielleicht wird jetzt klar, warum ich zu Beginn schrieb, ich hatte Glück spät geboren zu werden. 3,4 oder 5 Jahre später und ich würde vielleicht nicht mehr leben. Für mich ist es bis heute ein Wunder, dass ich nach wie vor HIV negativ bin, wie das sein kann, ist mehr reines Glück glaube ich.

Ich bin hier und in diesem Rahmen noch nicht bereit meine gesamte Geschichte öffentlich zu erzählen, hier und jetzt passt das nicht hin. 
Warum es mir aber wichtig ist, diesen kleinen Ausschnitt aus meiner Biografie mit euch zu teilen, wird vielleicht klarer, wenn ich zurück zu den Beginn meines Textes komme: Die Tatsache, dass ich es bis heute nicht verwunden habe, wie eine Gesellschaft und ihre Regierung tatenlos zusehen konnte unzählige junge und talentierte Menschen, in der Blüte ihres Lebens, einfach verrecken zulassen..

Heute, im Zuge der Corona Pandemie wird alles möglich gemacht, um Menschenleben zu schützen, hätte man damals so schnell reagiert, würden vielleicht einige meiner Freunde heute noch leben, aber wir waren nichts Wert. Ihr könnt Euch vorstellen, warum mich aus diesem Blickwinkel Corona Leugner und Impfgegner, Querdenker und Verschwörungstheoretiker nicht nur wütend und traurig machen, sonder viele alte Wunden aufreißen. Wieder leugnen Menschen eine Krankheit an der andere elendig zu Grunde gehen. Wieder lehnen Menschen es ab, Maßnahmen mit zu tragen, die andere Menschen schützen, da sie selbst der Meinung sind, sie wären nicht gefährdet. Ich brauche keine Intensivstation mit COVID Patienten zu besuchen, um zu wissen welch unsägliches Leid dort ab geht, ich weiß von den Aidsstationen wie es sich anhört wenn Menschen nach Luft ringen und ich weiß wie es ist wenn Menschen elendig verrecken. Um es einmal so krass auszudrücken

Meine Bitte an euch, mein Wunsch zum Welt Aids Tag, auch wenn wir mitten in einer anderen schrecklichen Pandemie sind, bitte informiert euch über HIV und Aids, informiert euch über die Geschichte und vergesst die Menschen nicht, die wir durch AIDS verloren haben.  Für die heutige Generation hat AIDS seinen Schrecken verloren, aber es ist noch da. Als Community sollten wir diesen Teil unserer Geschichte und das Andenken an unsere Wegbereiter lebendig halten. Und wir müssen weiterhin dafür sorgen,, dass auch Menschen in weniger privilegierten Ländern, die Möglichkeiten bekommen die wir als selbstverständlich ansehen . Informiert euch aber bitte auch über COVID und wenn ihr noch nicht alle Maßnahmen ergriffen habt, die uns derzeit zur Verfügung stehen, um uns alle zu schützen, tut dies bitte. Lasst Euch Impfen, tragt Maske, testet Euch und haltet die Anzahl Eurer Kontakte nachverfolgbar.

Ich werde wie jedes Jahr zum Welt Aids Tag seit 1988 nicht arbeiten, ich nehme mir an diesem Tag immer frei und wie jedem Jahr seit nun 33 Jahren, zünde ich Teelichte an und versuche mich an alle Namen und Gesichter zu erinnern. Es sind bis heute 156!

Für aktuelle Updates zum Thema HIV/AIDS empfehle ich Euch auch das Podcast Special von Barbie Breakout zum WeltAidstag, der am 01.12. auf ihrem YouTube Kanal veröffentlicht wird.
Ebenfalls passend zum Thema ist die Folge AIDS des Podcast 2Old2DieYoung, die sich mit dem Thema AIDS im Film beschäftigt. https://www.youtube.com/watch?v=GS8GeMDZ1vE

AIDS Memorial Instagram: https://instagram.com/theaidsmemorial

Für einen Einblick in die Arbeit und Struktur von ActUp Paris empfehle ich den Film 120bpm (Trailer: https://youtu.be/2fhO2A4SL24)

Doku: AIDS – Kampf ums Überleben AIDS – Kampf ums Leben https://g.co/kgs/5zLNGd

ARTE Doku 40 Jahre…

ActUp NYC https://actupny.com

ActUp Paris https://www.actupparis.org

Elton John AIDS Foundation https://www.eltonjohnaidsfoundation.org

Deutsche Aids Hilfe https://www.aidshilfe.de

2 thoughts on “Sehr persönliche Gedanken zum Welt AIDS Tag am 01.12.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert